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Dieser Beitrag nimmt auf folgende Beiträge Bezug, bzw umgekehrt:
Using quizzes to discuss and link different perspectives on physics

Von der Vorlesung zur Aufgabenlösung: In der Übung gemeinsam ans Werk!

Annemarie Sich1, Stefan Brackertz1 und Rochus Klesse2

1) Universität zu Köln, Fachschaft Physik
2) Universität zu Köln, Institut für Theoretische Physik

PDF-Download

Angeregt durch eine hochschuldidaktische Schulung wurde seit 2018 in einigen Veranstaltungen die Gestaltung der Übungen komplett abgeändert. Die bisher dominante Besprechung der von den Studierenden abgegebenen Übungen wurde fast komplett gestrichen; stattdessen werden die Übungen nun durch eine kurze Diskussion des Vorlesungsstoffes an Hand exemplarischer Fragen eingeleitet, der Hauptteil der Übungszeit wird dafür verwendet, gemeinsam die neuen Übungsaufgaben zu beginnen. Es hat sich herausgestellt, dass diese Konzeption auch über mehrere Semester hinweg und in verschiedenen Veranstaltungen zu einer hohen Beteiligung der Studierenden trotz reduzierter Restriktionen führt und sich die Klausurergebnisse verbessern.

Bereits seit einigen Jahren gibt es in der Fachgruppe Physik an der Universität zu Köln eine mehr oder weniger systematische Debatte darüber, wie der Übungsbetrieb fruchtbarer und gleichzeitig weniger restriktiv gestaltet werden kann.[1] Ein Ergebnis dieser Debatte ist, dass regelmäßig 2-tägige freiwillige Fortbildungen für Übungsleiter*innen angeboten werden, in denen Grundlagen kognitiver Aktivierung und kooperativen Lernens vermittelt werden. Diese Fortbildungen stoßen auch deshalb auf hohe Akzeptanz, weil durch den Referenten, Prof. Dr. Karl Friedrich Siburg von der Mathematik-Fakultät der TU Dortmund, eine große Nähe zum Setting des Übungsbetriebs im Physikstudium sichergestellt war.

Mehr aus der Betreuungsrelation in den Übungen machen!

Eine Grundthese dieser Fortbildungen ist: Der klassische Übungsbetrieb, bei dem mehr oder weniger gut erläutert Musterlösungen an die Tafel geschrieben und meist nur Vorzeichenfehler diskutiert werden, ist angesichts der meist hervorragenden Betreuungsrelation in den Physikübungen vor allem ein Trauerspiel nicht genutzter Möglichkeiten: Die Zeit, die wirklich darauf verwendet werde, aus Fehlern zu lernen oder offene Fragen der Studierenden zu diskutieren, ist minimal; 80% dessen, was in einer klassischen Übung geschieht, lasse sich besser und mit geringerem Gesamtaufwand für alle Beteiligten durch die Herausgabe von Musterlösungen erledigen. Die Erkenntnis, die allen Mathe- und Physikstudierenden im ersten Semester mit auf den Weg gegeben werde, dass man nämlich Mathe und Physik nur lerne, indem man drüber rede (≠ vortrage), werde in diesem Format völlig ignoriert. Hinzu komme: Was auch immer man davon halte, dass Studierende in Übungen eine gewisse Punktzahl erreichen müssten: Fakt sei, dass viele Studierende in Übungen Angst hätten, über ihre Abgaben zu reden, sei es, weil sie sie platt abgeschrieben haben oder sich an einer Gruppenabgabe nicht beteiligt haben, sei es, weil sie eine Lösung mehr assoziativ geraten als solide hergeleitet haben, sei es weil sie denken, ausreichend engagierte Studierende müssten sich ihre Fragen mit Büchern selbst beantworten können; in jedem Fall sei das Ergebnis oft eine unerträgliche Kultur des Schweigens, die es zu durchbrechen gelte.

Immer wieder diskutiert wird, wie es gelingt, in den Übungen Raum für Fragen zu schaffen, die über den konkreten Lösungsweg der Aufgaben hinaus gehen und wie die Übungen insgesamt diskursiver werden können. Die naheliegende Antwort, die auch in vielen Varianten erprobt ist: Die Herausgabe von Musterlösungen ermöglicht die Besprechung der Aufgaben auf das zu reduzieren, was durch die Musterlösungen noch nicht geklärt ist, und die Gestaltung der Übungen durch Präsenzaufgaben.

Schlechtes Gewissen und Fear of Missing out

Die Schwierigkeit dabei ist vor allem eine „fear of missing out“ bei Studierenden: Anders als im Physikunterricht der Schule ist es an der Uni für die Mehrheit der Studierenden fast unmöglich, den gesamten Veranstaltungsstoff beim ersten Hören einer Veranstaltung zu verstehen. Dass, je nach Vorlesungskonzept, schon 30% gar nicht so schlecht sind, ist eine Erfahrung, die gerade Studienanfänger*innen erst einmal machen müssen (und typischerweise nicht glauben). Dies bringt allerdings erhebliche Verunsicherungen mit sich: Habe ich die entscheidenden 30% verstanden? Wie kann ich mich halbwegs sicher im Stoff bewegen, wenn darin immer Löcher sind? Kann ich meinen Ergebnissen vertrauen, sie sogar selbstbewusst an der Tafel vorstellen? Die Verunsicherung ist gerade bei Studienanfänger*innen auch deshalb so groß, weil in Schule und Gesellschaft typischerweise ein Bild von Physik vermittelt wird, in dem Annäherungsprozesse, assoziatives Arbeiten usw. nicht vorkommen, sondern lediglich analytisches, überwiegend deduktives Vorgehen, bei dem jeder Schritt zu 100% abgesichert ist; gleichzeitig ist solch ein Bild natürlich umso dringender zu überwinden, je mehr auf eine Einheit von Lehre und Forschung wertgelegt wird, denn Forschung kann ja nie mit vollständiger Sicherheit und Klarheit beginnen. Das damit und hohem Leistungsdruck verbundene Gefühl, dauernd hinterher zu hinken, führt oft dazu, dass Studierende teils panisch einfordern, dass alle Lösungen von Aufgaben im Detail vorgerechnet werden – nicht um sie während der Übung zu verstehen, sondern um sie abschreiben zu können und sicher zu gehen, dass sie „später, wenn man endlich Zeit hat, sich alles genau anzusehen und aufzuholen“, als Material zur Verfügung stehen. (Ähnliche Tendenzen gibt es bei Videomitschnitten von Veranstaltungen.) Vor diesem Hintergrund entlasten aus Studierendensicht verlässliche und ausreichend vollständige Musterlösungen ungemein und ermöglichen oft überhaupt erst eine andere Gestaltung der Übungen, selbst wenn sie am Ende doch niemand liest (was aber typischerweise spätestens bei der Klausurvorbereitung geschieht).

Während sich Musterlösungen in der Kölner Physik inzwischen zu weiten Teilen etabliert haben, gibt es bei Präsenzaufgaben trotz vieler Versuche auch viel Hadern: Dadurch, dass oft ungeklärt ist, wie sie im Verhältnis zu den Hausaufgaben stehen und der Bedarf bei allen Seiten oft groß ist, auch bei der Existenz von Musterlösungen über die vergangenen Hausaufgaben zu sprechen, steht beides oft zeitlich in Konkurrenz zueinander und geschieht in großer Hektik.

Modell

Hier setzt das in diesem Beitrag vorgestellte Modell an: Anstatt zulasten der Hausaufgabenbesprechung Raum für Präsenzaufgaben zu schaffen, wird beides in ein produktives Verhältnis zueinander gestellt. Die Grundidee ist dabei, dass die Aufgaben nicht nach ihrer Lösung und Abgabe in der Übung besprochen werden, sondern vorher als Auftakt zu ihrer Bearbeitung. Dabei wird die Trennung zwischen Präsenz- und Hausaufgaben aufgegeben; gleichzeitig werden Musterlösungen und auch die Möglichkeit, über dann noch offene Fragen im Nachhinein zu sprechen, sichergestellt. Ein wichtiger weiterer Aspekt ist, dass Studierende bei diesem Modell systematisch angeleitet werden, wie sie Hausaufgaben produktiv bearbeiten und Gruppenarbeit, mit der viele schlechte Erfahrungen aus der Schule haben, gelingen kann:

  • Wöchentliche Übungsserien im üblichen Umfang einer Bachelor-Physik-Vorlesung. Zur Zulassung zur Klausur ist im Semestermittel eine Mindestpunktzahl zu erreichen, allerdings ist diese Hürde deutlich niedriger, als sonst im Studiengang üblich (z.B. 20% statt 50% Zulassungshürde), sodass dies eher eine Mitmach- als eine Leistungsanforderung ist. Dadurch ist für die Studierenden auch klar, dass die Zulassung nicht zum Bestehen reicht, dass man sich also nicht für den Rest des Semesters zurücklehnen kann, sobald man genug Punkte für die Zulassung erreicht hat, wozu gerade leistungsstärkere Studierende sonst oft tendieren.

  • Es gibt keine Unterscheidung in Präsenz- und Hausaufgaben, allerdings beginnt jeder Übungszettel mit einigen (nicht bepunkteten) Diskussionsfragen, die auf ein vertieftes Harausschärfen zentraler Begriffe bzw. Ideen der Vorlesung zielen, die für die weiteren Aufgaben des Übungszettels relevant sind. Die neuen Übungsaufgaben werden i.d.R. 2 Tage vor der Übung zur Verfügung gestellt, sodass Studierende bereits einen Blick hineinwerfen können, ohne dass dies bei der Gestaltung der Übungen vorausgesetzt würde.

  • In den wöchentlichen Übungsgruppen (ca. 15 Teilnehmer*innen) keine Präsentation von Lösungen, weder von Tutor*innen noch von Studierenden, stattdessen

  • Kurze Besprechung der Diskussionsaufgaben im Plenum (vorgesehen: 15 min, in der Praxis variiert dies aber sehr stark, siehe unten),

  • Beginn der Bearbeitung der Übungsaufgaben in Lerngruppen von bis zu drei Studierenden. Wesentlich dabei ist individuelle und bereitwillige Anleitung und Hilfestellung durch die/den Tutor*in.

  • Die Übungsaufgaben werden in der 90-minütigen Übungsstunde nur zu einem geringen Teil bearbeitet. (In Evaluationen gaben die Studierenden an, im Schnitt noch etwa 5 Stunden pro Woche für die Lösung der Aufgaben aufzuwenden.) Die begonnenen Lösungen werden von den einzelnen Gruppen gemeinschaftlich zu Ende geführt, aufgeschrieben und zur Korrektur abgegeben.

  • Korrekturen und Lösungshinweise (nicht unbedingt Musterlösungen, eher Hinweise wie sie auch die Tutor*innen erhalten, manchmal aber auch detaillierte Lösungen) werden nach der Abgabe den Studierenden so zeitig zur Verfügung gestellt, dass die Studierenden sie sich vor der nächsten Übung ansehen können. Ausschließlich auf konkrete Nachfrage gibt die/der Tutor*in zusätzliche Erläuterungen zu den Lösungshinweisen. Dies geschieht z.B. am Ende der Übung (in den letzten 10 min), während eigentlich die neuen Aufgaben bearbeitet werden bzw. im Anschluss an die eigentliche Übung, oft aber auch per Mail.

  • Das gesamte in die Veranstaltung involvierte Team trifft sich wöchentlich. Dabei berichten die Übungsleiter*innen aus den Übungen, sodass dies im weiteren Verlauf der Gestaltung von Vorlesung und Übungsserien berücksichtigt werden kann. Außerdem gibt es oft kurze Erläuterungen, was Knackpunkte an den neuen Aufgaben sind, was man daran lernen kann und wie sie in den Kontext der Vorlesung passen.

Mit kleineren Änderungen findet dieses Modell auch in Theorie-Master-Veranstaltungen Anwendung.

Erfahrungen

Seit 2018 wurde dieses Modell in allen von Rochus Klesse verantworteten Veranstaltungen[2] und einigen Veranstaltungen anderer Kollegen angewandt. Dabei handelt es sich um Vorlesungen zur Theoretischen Physik und von der Theoretischen Physik verantwortete Mathematik-Vorlesungen vom Ba-Erstsemester-Veranstaltungen bis zu Master-Spezialvorlesungen, für Hauptfach- und Nebenfach-Studierende. Auch nach mehreren Iterationen und in verschiedenen Personenkonstallationen hat sich das Modell bewährt. (Bei früheren Experimenten mit z.B. Bonuspunkten hatte es den Effekt gegeben, dass die ersten Semester recht überzeugend waren, sich über die Zeit aber unerwünschte Effekte einschlichen.)

Über die angestrebten Effekte hinaus hat sich gezeigt, dass das gemeinsame Anfangen der Aufgaben auch dazu führt, dass die Studierenden systematischer Arbeitsgruppen bilden, in diesen Gruppen tatsächlich zusammenarbeiten und weniger dazu tendieren, Lösungen von anderen Studierenden oder aus der Literatur abzuschreiben. Die Erfahrungen im Detail:

Hard facts

  • Die Teilnahme an den Übungen war durchweg sehr gut, obwohl es keine Anwesenheitspflicht oder Ähnliches gab. Dabei ist anzumerken, dass es keine Musterlösungen / -antworten zu den Diskussionsfragen gab.

  • Die meisten Studierenden haben sehr regelmäßig und auch tatsächlich in Gruppen abgegeben. Nach dem üblichen Schwund in den ersten beiden Vorlesungswochen, der darauf zurückgeht, dass Studierende am Anfang des Semesters erstmal sondieren, was sie wirklich belegen wollen, sind nur wenige Studierende über das Semester verloren gegangen. Allerdings kam es je nach Veranstaltung systematisch vor, dass eine nicht zu vernachlässigende Zahl von Studierende jede Woche nur einen Bruchteil der Aufgaben auf dem Übungszettel bearbeitet haben, diese Aufgaben aber typischerweise recht gut. Dadurch gab es immer wieder auch Studierende, die die niedrige Zulassungshürde nur knapp genommen haben.

  • Die Klausurergebnisse sind im Vergleich zu vorherigen Semestern, in denen die Übungen vor allem in einer Besprechung der Hausaufgaben bestanden, wesentlich besser geworden. Bei diesem Standardmodell gab es immer einen gewissen Anteil von Studierenden, die trotz klar erreichter Klausurzulassung in der Klausur so gut wie gar nichts hinbekommen haben, was darauf hindeutet, dass diese Studierenden die Zulassung nicht durch eigenständige Lösung der Übungsaufgaben erreicht haben oder zumindest sehr wenig aus den Übungen mitgenommen haben. Dieses Phänomen gibt es mit dem neuen Modell fast gar nicht mehr. Dagegen hat sich am Rest der Ergebnisverteilung relativ wenig geändert.

Angesichts dieser Beobachtungen und Gesprächen mit einigen Studierenden und Übungsleiter*innen liegt die Vermutung nahe, dass es gelungen ist, dass kaum Studierende verloren gehen bzw. dass die Gestaltung der Übungen es ermöglicht, dass Studierende, die den Anschluss verloren haben, die Chance haben, wieder einzusteigen und diese Chance auch nutzen.

Da sich abgesehen vom Wegfall der sehr schwachen Klausurergebnisse an der Verteilung der Klausurergebnisse nicht viel geändert hat, obwohl einige Gruppen immer nur einen kleinen Teil der Übungsaufgaben bearbeiten, würden wir zudem eine weitere These wagen: Kann es sein, dass der teils geringe Bearbeitungsgrad der Übungszettel im Prinzip sichtbar macht, wie viel die Studierenden in diesem Modell wie im herkömmlichen tatsächlich eigenständig bearbeiten? Oder andersrum: Kommt der höhere Bearbeitungsgrad der Hausaufgaben, den es bei manchen Studierendengruppen im herkömmlichen Modell gibt, daher, dass Studierende Aufgaben nicht gemeinsam bearbeiten sondern sich aufteilen, wer in einer Gruppe, welche Aufgaben bearbeitet, dann alleine oft überfordert sind und die Aufgaben in Wirklichkeit von anderen Studierenden oder aus der Literatur abgeschrieben? Oder sind die, die nur einen kleinen Teil der wöchentlichen Aufgaben bearbeiten, die, die im herkömmlichen Modell verloren gehen?

Lernkultur und das Problem des Anfangens

Einvernehmlich berichten Studierende wie Übungsleiter*innen, dass das gemeinsame Anfangen der Übungsaufgaben über die konkrete Hilfestellung, die die Übungsleiter*innen dabei leisten, hinaus eine große Bedeutung hat:

  • Die Studierenden bilden tatsächlich Arbeitsgruppen und diskutieren die Aufgaben, anstatt wie sonst häufig einfach nur die Aufgaben untereinander aufzuteilen und dann faktisch allein zu bearbeiten. Dabei bleiben auch schüchterne Studierende, die sonst teilweise Schwierigkeiten haben, Arbeitsgruppen zu finden, nicht allein. Wenn auch viel seltener, springen auch im beschriebenen Modell vor allem in den ersten zwei Semesterwochen, in denen viele Studierende noch an ihrem Semester-Stundenplan basteln, Studierende ab. Insbesondere wenn die Übungsleiter*innen darauf ein Auge haben, finden die verbliebenen Studierenden aber nun anders als sonst zwanglos neue Gruppen. Auch wenn Gruppen nicht (mehr) gut miteinander klarkommen (was auch Physik-fremde Gründe wie zerbrochene Beziehungen oder neue Arbeitszeiten im Nebenjob haben kann), klappt die Neubildung von Arbeitsgruppen quasi automatisch.

  • Nicht nur wenn Studierende eine Aufgabe alleine bearbeiten, haben sie oft Schwierigkeiten einen Lösungsansatz zu finden und geben zu schnell auf, den Ansatz selbst zu finden. Wird in der Übung der Anfang gemeinsam gemacht, gibt es die Erfahrung, dass und wie man es tatsächlich selbst schaffen kann. Dies ist nicht nur ermutigend, sondern verringert auch die Wahrscheinlichkeit, dass Studierende bei der weiteren Bearbeitung der Aufgaben in das Muster aus Arbeitsteilung statt Zusammenarbeit und Recherchieren oder Abschreiben des Ansatzes statt Selbstversuchen zurückfallen. Einschränkend muss angemerkt werden, dass die meisten Gruppen z.B. nur 2 von 5 Aufgaben in der Übung beginnen und dann bei den übrigen Aufgaben mitunter doch die klassische Arbeitsteilung geschieht und/oder die Hürden des Anfangens bestehen bleiben. Nur wenig Studierenden gelingt es, in der Übungszeit alle Aufgaben daraufhin zu screenen, wo es Schwierigkeiten geben könnte, und diese alle zu klären.

  • Gerade bei hoher Arbeitsbelastung neigen Studierende dazu, Aufgaben erst kurz vor der Abgabe zu beginnen. Besonders bei Aufgaben, die Kreativität erfordern (etwa Beweise, die keinem festen Schema folgen) oder reifen müssen, um beispielsweise eine Idee auf den Punkt zu bringen, ist dies auch dann ein Problem und führt zu Stress, wenn der späte Beginn bezogen auf die reine Bearbeitungszeit noch ausreicht. Anders im hier besprochenen Modell: Ist der Anfang gemeinsam frühzeitig gemacht, können die Aufgaben auch dann im Kopf reifen und sich sortieren, wenn die Studierenden sie erst auf den letzten Drücker fertig machen.

  • Ein Grund, warum Studierende die Bearbeitung von Aufgaben oft vor sich her schieben, ist, dass sie den Eindruck haben, hinterher zu hinken und erst noch Stoff aufholen müssten. Dies führt dann wiederum dazu, dass der aufzuarbeitende Berg immer größer wird und Studierende letztlich verloren gehen. Die Erfahrung mit dem vorgestellten Modell ist, dass es Studierenden den Wiedereinstieg, gerade auch wenn sie einen großen Berg und ein schlechtes Gewissen vor sich her schieben, ungemein erleichtert: Bei den Diskussionsfragen fällt allen Beteiligten typischerweise sehr schnell auf, welche der für die anstehenden Aufgaben notwendigen Grundlagen fehlen oder nur halb richtig verstanden wurden. Das hat einerseits den Effekt, dass die Studierenden merken, dass sie nicht die einzigen sind, die etwas noch nicht oder vielleicht auch falsch verstanden haben – oder aber auch, dass sie gut dabei sind –, und die Übungsleiter*innen können sehr gezielt mit Exkursen diese Lücken stopfen, bevor es dann tatsächlich gut vorbereitet an die Bearbeitung der Aufgaben geht. So ist denn auch die Erfahrung, dass diese Diskussionsphase abhängig von der Gruppe, aber auch vom aktuellen Vorlesungsthema sehr unterschiedlich lange (10-60 Minuten) dauern kann. Diese Situation kommt insbesondere auch sehr heterogenen Gruppen zugute. So wurde das Modell mehrfach in einer zweisemestrigen Vorlesungsreihe zur Theoretischen Physik angewandt, die sich an Physik-Lehramts-Studierende, Studierende des Bachelorstudiengangs Geophysik&Meteorologie sowie Mathe-studierende mit Physik-Nebenfach richtet. Diese Studierenden haben auch dann, wenn sie im Prinzip alle das für die Vorlesung nötige mathematische Handwerkszeug gelernt haben, doch sehr unterschiedliche Voraussetzungen im Umgang mit abstrakteren mathematischen Strukturen wie etwa Hilberträumen. In den Diskussionsphasen ist es dabei oft gelungen, dass die Studierenden voneinander gelernt haben, was bei meist qualitativen Diskussionen über kurze Fragen erheblich besser funktioniert als beim Vorrechnen einer längeren Lösung – allein schon, weil bei einem echten Wortwechsel in einem ganz anderen Maße aufeinander Bezug genommen werden muss. Dabei profitieren nicht nur die Studierenden, die weniger erfahren im Umgang mit den mathematischen Grundlagen sind, sondern auch die, denen direkt klar ist, wie ein mathematisches Objekt gehandhabt werden muss, weil es auch für die eine Herausforderung ist, spontan, nachvollziehbar und kurz zu formulieren, was sie da eigentlich tun.

Die Hürden mitzureden sind dabei auch deshalb niedriger, weil es weder in der Diskussion noch beim Beginn der neuen Aufgaben eine Rolle spielt, ob man die letzten Lösungen abgeschrieben hat und niemand ein schlechtes Gewissen hat, sich irgendwas vor der Übung nicht angeschaut zu haben. So betonen sowohl Studierende als auch Übungsleiter*innen die angenehme und aktive Gesprächsatmosphäre, die sich ausnahmslos spätestens nach den ersten Wochen eingestellt hat, die Studierende wie Übungsleiter*innen typischerweise brauchten, um sich an das meist für sie ungewohnte System zu gewöhnen.

Zudem lernen Studierende in der Diskussionsphase nebenbei die Nachbereitung von Vorlesungen.

Besonders durch die individuelle Unterstützung in der Aufgaben-Bearbeitungsphase bekommen Übungsleiter*innen nicht nur sehr gut mit, wo die Studierenden stehen, was sie können und wo sie Lücken haben; vielmehr bekommen sie anders als beim Korrigieren von Abgaben auch mit, wie die Studierenden denken und wie sich daran anknüpfen lässt. Letzteres können erfahrungsgemäß wenig didaktisch geschulte, fortgeschrittene Studierende sonst häufiger nicht treffend intuitiv einschätzen. Auch wenn die Übungsleiter*innen alle berichten, dass dies viel anstrengender und herausfordernder ist als eine übliche Übung, weil man ständig on-point etwas aus diesem Feedback machen muss, wird dies als sehr motivierend empfunden. Die sehr konsequent wöchentlich stattfindenden Teambesprechungen werden dabei als sehr hilfreich empfunden.

Und was ist mit den Korrekturen?

Die Nachbesprechung der abgegebenen Übungsaufgaben, die im klassischen Übungsbetrieb mehr oder weniger die gesamte Zeit einnimmt, kommt in diesem Modell gar nicht (explizit) vor. Kann das gut gehen? Und falls ja: Ist dann all die Arbeit im klassischen Übungsbetrieb komplett überflüssig?

Unsere Erfahrung ist: Das, was den klassischen Übungsbetrieb ausmacht, kommt implizit sehr wohl auch im hier vorgestellten Modell vor:

Wenn Studierenden wirklich Bedarf sehen, über bestimmte Knackpunkte zu sprechen, wird das – genau auf den Bedarf der jeweiligen Studierenden abgestimmt – in individuellen Gesprächen in der Arbeitsphase geklärt. Tatsächlich geschieht dies aber nur selten, weil die meisten Studierenden bei einer hilfreichen Korrektur und im Zweifel unter Hinzuziehung der Musterlösung angesichts von Zeitdruck unter dem Semester von sich aus nicht allzu oft größeren Gesprächsbedarf sehen.

Typischerweise bauen alle Übungsleiter*innen Erläuterungen, die sie angesichts der Korrekturen und der Team-Besprechungen für sinnvoll erachten, aber von sich aus in die Besprechung der Diskussionsfragen ein. Der Fokus ist dabei dann aber weniger: „Wie muss man es machen, wenn das in der Klausur dran kommt?“ Sondern viel mehr: „Hier taucht etwas auf, was euch vorher schonmal Schwierigkeiten bereitet hat, und zwar...“ Dadurch, dass diese Besprechung unmittelbar für die Studierenden nützlich ist, beschäftigen sie sich dann viel eher tatsächlich damit, anstatt sich lediglich Notizen für die Klausurvorbereitung am Ende des Semesters zu machen.

Manche Übungsleiter*innen triggern auch bewusst, dass Studierende die Fragen zu den aktuellen Aufgaben haben, nochmal in alte Aufgaben schauen, indem sie – was die Aufgaben oft hergeben – Fragen beantworten wie: „Schaut nochmal in Aufgabe 3 von vorletzter Woche und überlegt, wie ihr das auf diese Aufgabe übertragen könnt.“

Weiterentwicklungspotenzial

  • Wie Studierende dabei unterstützt werden können, das Screening der Aufgaben auf zu stellende Fragen hin zu lernen, anstatt sich direkt in eine Aufgabe so sehr zu vertiefen, dass sie in der Übung auf die anderen gar keinen Blick mehr werfen können, ist eine offene Frage, der sich die Autor*innen weiter widmen wollen.

  • Viele, aber nicht alle Übungsleiter*innen haben von sich aus ein Auge auf die Gruppenbildung der Studierenden. In den Teambesprechungen könnte expliziter angesprochen werden, dass dies hilfreich ist.

  • Ebenfalls könnte in den Teambesprechungen angesprochen werden, dass es sich als hilfreich herausgestellt hat, wenn die Übungsleiter*innen bewusst an geeigneter Stelle dazu anregen, nochmals in alte Übungsaufgaben zu schauen.

Fazit

Die Ausgangsfrage beim klassischen Übungskonzept ist: „Welche Aufgabe ist am besten dafür geeignet, den Vorlesungsstoff zu vertiefen und wie muss sie besprochen werden, damit die Studierenden aus ihren Fehlern für die Klausur lernen?“ Demgegenüber ist die Ausgangsfragestellung, die in den Fortbildungen für Übungsleiter*innen am Anfang der Überlegungen steht: „Wie gelingt es, das meiste aus der wertvollen Zeit mit Übungsleiter*in zu machen?“

Beides steht sich bei ersten Gehversuchen in Richtung Reform des Übungsbetriebs auf Grund der begrenzten Übungszeit oft ungewollt entgegen. Gerade in Master-Spezialveranstaltungen, in denen das Erlernen des Handwerkszeugs oft weniger im Mittelpunkt steht und traditionell das Rechnen von Hausübungen eine geringere Rolle spielt, wurde auf diese Schwierigkeit in den vergangenen Semestern teilweise reagiert, in dem die Hausaufgaben so überarbeitet wurden, dass sie weniger eine eigenständige Rolle spielen. Stattdessen wurde – ausgehend von der Frage „Wie gelingt es, das meiste aus der wertvollen Zeit mit Übungsleiter*in zu machen?“ überlegt, welche Vorarbeit kann zu Hause dafür geleistet werden, dass dies besonders gut klappt. Dafür wurden oft bei klassischer Vorlesung, Elemente von inverted-classroom-Konzeptionen für den Übungsbetrieb übernommen.

In diesem Modell ist die Ausgangsüberlegung eine dritte: „Das Entscheidende im Studium sind nicht die Veranstaltungen, sondern die Zeit dazwischen, in denen die Studierenden anlässlich der zu bearbeitenden Aufgaben miteinander über Physik reden. Wie kann die Zeit in den Veranstaltungen genutzt werden, um diesen Prozess so gut wie möglich auf die Schiene zu setzen?“

Aufgrund der durchweg positiven Erfahrungen aller beteiligten Seiten (Studierende, Tutor*innen, Dozent) wurde das Übungsmodell seit der Einführung 2018 beibehalten.

 

Wir danken Simon Fischer für die Initiative, dieses Modell zu entwickeln. Dank gilt auch Philipp Bönninghaus, Dennis Hardt und Daniel Oros dafür, dass sie mit ihren Erfahrungen als Studenten und Übungsleiter zu diesem Artikel beigetragen haben.

Literatur

[1] Geisel-Brinck et al.: „Was Besseres als Klausurzulassungen“. Posterbeitrag zum Studienreformforum 2019, Supplementary Material zu; Brackertz et al.: ”Studienreformforum” In: PhyDid B 2019

[2] https://www.thp.uni-koeln.de/~rk/teaching.html Ausnahme: Vorkurs

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